Ein bestimmter Satz ist während meines gesamten Lebens immer wieder an meiner Seite, und zwar „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Er stammt von dem Philosophen Voltaire, der im 18. Jahrhundert als Autor maßgeblich die französische und europäische Aufklärung mitgestaltete. Meine Suche nach Bildern von ihm im Internet offenbart ein überwiegend lächelndes Gesicht. Zeugt dies von über die Zeit verheilten Wunden?
Ich persönlich fand das Zitat, wann immer ich es von anderen zu einem meiner schwierigeren Momente im Leben hörte, fürchterlich! Klar, meist verlangte es mich in diesen emotional aufgeladenen Momenten eher nach Liebe, Trost und schneller Heilung, weniger nach gut gemeinten Worten für einen langen Atem. In einigen Situationen begann ich jedoch irgendwann, mir diesen Satz selbst zu sagen. Denn, so weiß ich inzwischen, an ihm ist etwas dran. Jede Krise hatte schließlich einen Anfang und ein Ende. Beides hin und wieder schleichend. Immer zeitlich begrenzt. Und damit nicht genug, so war jede Krise von unterschiedlicher Dauer. Wäre ja auch langweilig, wenn ich nur die Tage im Kalender abstreichen müsste.
Ein Kommen und Gehen: Orkan, Welle oder auch nur die Nacht
Egal, was passiert, es geht vorbei
Machen wir uns nichts vor, es gibt nun einmal in unserem Leben gute und schlechte Zeiten. Ein stetes Kommen und Gehen. Und damit sind die guten Zeiten ebenso zeitlich begrenzt. Beides gehört zu uns. Beides lässt uns innerlich wachsen, wenn wir genauer hinschauen. Ich unterteile nicht einmal mehr nach guten und schlechten Tagen, Momenten oder Situationen. Auch Gedanken - gute wie schlechte wohlgemerkt - gehen vorbei. Ebenso Gefühle. Sich dies bewusst zu machen und den Dingen ihre Zeit zu geben, ist zumindest für mich schon ein kleiner Schritt zu mehr Gelassenheit. Und eine gute Portion Vertrauen ins Leben. Alles wird gut. Noch so ein Satz… Und wie war das jetzt gleich nochmal mit den Wunden?
Und wie ist das in Beziehungen?
Die Zeit heilt nicht alle Wunden
Ich habe immer wieder Menschen getroffen, die mich berührt haben. Denen ich mich geöffnet habe. Mit diesen Menschen bin ich eine Beziehung eingegangen. Nicht zwingend in Form einer Partnerschaft. Für mich fangen Beziehungen schon sehr viel früher an, nämlich dann, wenn ich mit einem Menschen in einen verbalen oder nonverbalen Austausch gehe. Verbindung trifft es sicher besser. Es gab Menschen in meinem Leben, die haben mein Herz sehr schnell und sehr tief berührt. Nur traf dies nicht immer auf Gegenseitigkeit, sodass ich mir die eine oder andere emotionale Verletzung zuzog. Je intensiver eine Beziehung war, umso tiefer waren die Verletzungen und hinterließen manchmal klaffende Wunden. Hat hier die Zeit geholfen, diese Wunden zu heilen? Nein!
Wunden bedeuten Schmerz mit der Einladung zum Anschauen
Hinschauen ist Heilung
Mit jeder neuen Beziehung kamen alte Verletzungen wieder hoch. Ich habe dann verstanden, dass dahinter eine Einladung steht. Die Verletzungen luden mich ein, genauer hinzuschauen. Dankbar zu sein für die Erfahrung, den Menschen, die Situation; hierin also auch das Gute zu sehen. Natürlich gelang mir das nicht auf dem Höhepunkt meiner emotionalen Belastung. Hierfür musste mal mehr, mal weniger Zeit vergehen. Zeit, die ich für mich genutzt und auch mit mir zugewandten Menschen verbracht habe. Und ich mache dir nichts vor, ich habe auch Rotz und Wasser geheult und mich im emotionalen Dreck gesuhlt – um schließlich die Wunden zu betrachten und zu reflektieren. Und auch dies dauerte eine Zeit lang. Zeit, die sich jedoch gelohnt hat, denn jede dieser intensiveren Beziehungen hat mich etwas gelehrt und mich im Leben vorangebracht. Und darum geht es doch am Ende, oder? Ich übe mich also weiterhin im Annehmen, Akzeptieren, Verzeihen und Wunden versorgen, indem ich mir selbst etwas Gutes tue. So lässt es sich schließlich in vollem Bewusstsein leichter loslassen. Meine Entscheidung. Meine Haltung.
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